Trügerische Ruhe in Saudiarabien

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Neue Zürcher Zeitung, Montag, 30. Januar 2012

Während in der saudischen Hauptstadt und in anderen Teilen des Landes weitgehend Ruhe herrscht, dauern Proteste in der Ostprovinz an. In den letzten Monaten wurden erstmals mehrere Mitglieder der schiitischen Minderheit getötet.

Der Westen sieht Saudiarabien als Bollwerk gegen Iran und strategischen Partner während der Umbrüche in der arabischen Welt. Diese Allianz wurde durch die Bekanntmachung des 30 Milliarden Dollar schweren Rüstungsgeschäfts mit den Vereinigten Staaten Ende Dezember vergangenen Jahres untermauert. Im konservativen Königreich regt sich aber wie in den Nachbarländern Widerstand gegen die autokratische Politik der Königsfamilie, vor allem unter Mitgliedern der schiitischen Minderheit im Osten des Landes.

Erste Tote und Begräbnisse

Am 16. Januar gingen Tausende in der Stadt Awamiya in der Nähe von Katif auf die Strasse, um dem Begräbnis eines 22-jährigen Schiiten, Issam Muhammad Abu Abdallah, beizuwohnen. Dieser war am 12. Januar von saudischen Sicherheitskräften erschossen worden. Das saudische Innenministerium teilte mit, die Sicherheitskräfte seien in ihrem Auto mit Brandbomben attackiert worden und hätten sich verteidigt, wobei es mehrere Verletzte und einen Toten gegeben habe. Lokale Aktivisten bestätigen, dass Brandbomben verwendet worden seien, bestehen aber darauf, dass die Sicherheitskräfte in eine Demonstration hineingefahren seien und dann zu schnell geschossen hätten. Die Beerdigung entwickelte sich dann zu einem Protestmarsch, bei dem regimekritische Slogans skandiert wurden, berichtet ein Aktivist aus Awamiya.

Sporadisch kam es in der Ostprovinz von Saudiarabien schon seit Beginn des «arabischen Frühlings» zu Demonstrationen. Verlangten die Demonstranten im Februar 2011 vor allem die Freilassung von Gefangenen und zeigten sich solidarisch mit den Protesten in Bahrain, so forderten sie im März bald mehr demokratische Mitbestimmung und die Einhaltung der Menschenrechte. Als es aber in anderen Teilen des Landes nicht zu ähnlich grossen Protesten kam und die Sicherheitskräfte viele Demonstranten verhafteten, trat eine trügerische Ruhe auf den Strassen der mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gegenden ein.

Das Innenministerium hat im letzten Jahr wiederholt erklärt, dass Proteste jeglicher Art illegal seien und nicht geduldet würden. Dies ist mit ein Grund dafür, dass viele der Demonstranten in der Ostprovinz vermummt waren und anscheinend zum Teil auf Gewalt als Mittel zum Zweck setzen. Im Oktober wurde laut Darstellungen des Innenministeriums ein Polizeiposten in Awamiya von Agenten einer «ausländischen Macht», wohl eine Anspielung auf Iran, angegriffen.

Laut schiitischen Aktivisten handelte es sich dabei jedoch vielmehr um einen lokalen Konflikt, als die Väter zweier flüchtiger junger Aktivisten verhaftet worden waren, um die Söhne zu zwingen, sich der Polizei zu stellen. Tatsache ist, dass es Verletzte auf beiden Seiten gab und sich die gesamte Ostprovinz in einer Art Kriegszustand mit Strassensperren und Personenkontrollen befand. An diesen Strassensperren kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen, und am 20. November wurde der erste Schiit unter ungeklärten Umständen erschossen.

Wie auch in anderen arabischen Ländern wurde sein Begräbnis zu einer Protestkundgebung, bei der ein weiterer Demonstrant starb, was zu der bisher grössten Kundgebung seit drei Jahrzehnten mit gegen hunderttausend Teilnehmern in Katif führte. Während dieser Kundgebung wurden auch Parolen skandiert, die den Fall des Herrscherhauses forderten. Bei dieser Kundgebung wurden zwei weitere junge Schiiten erschossen.

Jugendliche und ein Kleriker

Durch eine Mischung aus Versprechen, Drohgebärden und enormem Druck auf die Notabelnfamilien und Vertreter der verschiedenen illegalen politischen Gruppierungen schaffte es die Regierung, die Demonstrationen in Katif zu unterbinden. Die den Schiiten heiligen ersten zehn Tage des Muharram, des ersten Monats im islamischen Jahr, die letztes Jahr auf Anfang Dezember fielen, verliefen ohne grössere Kundgebungen. Das war besonders wichtig für die Regierung. Unter deren massivem Druck hatten die wichtigsten schiitischen Kleriker in Saudiarabien eine Erklärung veröffentlicht, in der sie von Demonstrationen während des Muharram abrieten.

Die Ergebnisse einer angekündigten Untersuchung zu den Todesfällen wurden allerdings nie veröffentlicht. Und anstatt den Schiiten in irgendeiner Weise entgegenzukommen, gab das Innenministerium Anfang Januar dieses Jahres eine Liste mit 23 gesuchten Männern heraus und versprach sogar Prämien für Hinweise, die zu ihrer Verhaftung verhelfen würden. Diese Männer, viele von ihnen aus Awamiya, werden allem Anschein nach für ihre Rolle bei den Protesten gesucht. Einige wurden bereits verhaftet, andere sind untergetaucht, aber die Liste hat die Einwohner von Awamiya und von anderen schiitischen Dörfern und Städten wohl noch weiter radikalisiert.

Hinzu kommt, dass die schiitische Elite, sogar die Führer der politischen Gruppierungen, die bis 1993 im Exil waren, bei den Jungen kaum mehr Vertrauen geniesst. Seit Jahrzehnten versuchen sie durch Verhandlungen mit der Regierung, ihrer Region zu einem besseren Status zu verhelfen, in den Augen vieler junger Schiiten vergeblich. Wie in anderen arabischen Ländern sind die Jungen online vernetzt und verlangen dieselben radikalen Veränderungen, wie sie zuvor von Aktivisten in Tunesien, Ägypten, Jemen, Syrien oder Bahrain formuliert worden sind.

Ein Kleriker, der kein Blatt vor den Mund nimmt und das Regime aufs Schärfste kritisiert, ist so etwas wie ein Anführer der Revolte geworden. Nimr an-Nimr, seit geraumer Zeit der populärste Kleriker in Awamiya, ist jetzt auch in anderen schiitischen Gegenden der wohl beliebteste religiöse Führer unter den Jungen. 2009 machte er international Schlagzeilen, als er in einem Freitagsgebet zur Sezession der Ostprovinz aufrief. Danach tauchte er zwei Jahre unter und trat erst während der Proteste 2011 wieder in Erscheinung.

Langanhaltender Konflikt

In der Ostprovinz schwelt seit Jahrzehnten ein Konflikt zwischen den Herrschern der Königsfamilie und der schiitischen Minderheit. Der «arabische Frühling» hat dem Konflikt neues Leben eingehaucht und den Schiiten die Hoffnung auf ein anderes Leben gegeben. Seit Jahrzehnten beklagen sich die Schiiten über Diskriminierung im öffentlichen Sektor, vor allem bei der Rekrutierung in Armee, Polizei und Geheimdienst, wie auch über die Aktionen der Religionspolizei, die viele religiöse Praktiken der Schiiten für unislamisch hält.

Anstatt den Schiiten entgegenzukommen, setzte das Königshaus auf Repression. Die Erwartungen der Schiiten, aber auch anderer Saudis sind jedoch durch die Aufstände in den umliegenden Ländern gewachsen. Demonstrationen lassen sich nicht mehr einfach durch Versprechen und Repression verhindern, auch wenn die Schiiten so wenig wie andere saudische Reformer bürgerkriegsähnliche Zustände wie etwa in Jemen oder in Syrien provozieren wollen. Obwohl das Regime die Proteste ersticken will, versucht es auch, der sunnitischen Mehrheit Angst vor einem schiitischen Aufstand zu machen. Saudische Medien und Kommentatoren haben im letzten Jahr unermüdlich erklärt, dass die Proteste in der Ostprovinz und in Bahrain ein schiitisches Komplott seien. Dadurch will das Regime eine gemeinsame Oppositionsfront von Sunniten und Schiiten verhindern. Solange die Proteste vor allem in der Ostprovinz stattfinden, scheint dieser Plan aufzugehen.