Ein Sündenbock für die Region
Inzwischen sind alle Länder des Nahen Ostens von der Corona-Pandemie betroffen. In der Krise suchen die Regierungen nach einem Schuldigen und befeuern so Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten.
Jedes Jahr besuchen Millionen Pilger aus aller Welt die schiitischen Schreine in Iran, dem Irak und Syrien. Dabei berühren oder küssen sie die Heiligtümer und erhoffen sie sich so den Segen vom jeweils verehrten Mitglied der Familie Muhammads. Zu Beginn der Corona-Pandemie wurden diese Schreine, vor allem der Schrein in der Iranischen Gelehrtenstadt Qom, so zu zentralen Übertragungsorten des Virus: Schiitische Pilger, von denen einige selbst zur Risikogruppe gehörten, steckten sich an und trugen das Virus von Schrein zu Schrein sowie nach der Pilgerfahrt auch in ihre jeweiligen Heimatländer.
Der erste gemeldete Corona-Fall im Irak etwa betraf einen iranischen Studenten am religiösen Seminar von Nadschaf, in direkter Nachbarschaft zum Imam-Ali- Schrein. Schon nach kurzer Zeit wurden Fälle im ganzen Land gemeldet – betroffen waren auch einige Geistliche, die der Lungenkrankheit erlagen. Daraufhin ließ die irakische Regierung den Schrein schließen, öffentliche Ansammlungen verbieten und das erste Mal seit 2003 Freitagsgebete im ganzen Land absagen. De facto wurde Nadschaf so unter Quarantäne gestellt – auch wenn der Kleriker Muqtada Sadr in einem symbolischen Akt den Imam-Ali-Schrein weiterhin besuchte. Auch die hochfrequentierte Grenze zu Iran wurde dichtgemacht.
Nach und nach verbreitete sich das Virus über die ganze Region. Am 21. Februar bestätigte der Libanon seinen ersten Fall mit COVID-19, eine 45-jährige Frau, die erst kürzlich aus Qom zurückgekehrt war. Am 24. Februar gaben dann die Regierungen von Bahrain, Oman und Kuwait ihre ersten Infektionen mit dem Coronavirus bekannt und am 2. März zogen Katar und Saudi-Arabien nach – die jeweils ersten Corona-Patienten in den meisten dieser Länder kamen gerade aus Iran zurück. Die ersten diagnostizierten Fälle in Katar waren beispielsweise Personen, die in Iran gelebt hatten und erst kürzlich in den Golfstaat heimgekehrt waren.
Eine emiratische Zeitung behauptet, dass alle Coronavirus-Fälle in der Region auf Iran zurückzuführen seien – dabei waren die ersten Infizierten in den VAE Touristen aus Wuhan.
Schiitische Pilger und Geschäftsleute brachten das Virus wahrscheinlich auch nach Pakistan, die Heimat von vielen Millionen schiitischen Muslimen – obwohl Pakistan auch enge Beziehungen zu China pflegt und das Virus eventuell auch von dort eingeschleppt wurde. Gleichermaßen verbreiteten Rückkehrer aus Iran das Coronavirus vermutlich auch in Afghanistan, denn die höchsten Fallzahlen des Landes verzeichnet Herat, nahe der iranischen Grenze.
Etwas weiter im Osten waren die fünf Staaten Zentralasiens unter den Ersten, die ihre Grenzen zu China schon zu Beginn des Ausbruchs von COVID-19 schlagartig schlossen. Außerdem stoppten sie jeglichen Reise- und Handelsverkehr mit Iran. Turkmenistan hat mittlerweile die bizarrsten Maßnahmen angeordnet, nämlich jede Erwähnung des Virus verbieten und Menschen mit Gesichtsmasken verhaften lassen.
Irans Umgang mit dem Corona-Ausbruch machte die Islamische Republik schnell zur Zielscheibe von Anfeindungen. Neben den USA meldeten sich auch die Nachbarstaaten Irans schnell mit Schuldzuweisungen zu Wort. Bahrains Innenminister, Scheich Raschid bin Abdullah Al Khalifa, bezichtige Iran einer »völkerrechtswidrigen biologischen Aggression«, da das Land den Ausbruch des Virus verschleiert und die Pässe bahrainischer Reisender nicht gestempelt habe.
Der saudische Außenminister Faisal Bin Farhan verurteilte Iran auf seinem offiziellen Twitteraccount für »die Erzeugung einer Gesundheitsbedrohung für die gesamte Menschheit«. Und die emiratische Zeitung Gulf News behauptete, dass alle Coronavirus-Fälle in der Region auf Iran zurückzuführen seien – obwohl die ersten Infizierten in den VAE chinesische Touristen aus Wuhan waren (und die ersten Fälle im Nahen Osten bereits am 29. Januar gemeldet wurden, Wochen vor dem offiziellen gemeldeten Ausbruch in Qom). Offiziell boten die VAE sowie Katar und Kuwait dann allerdings der iranischen Regierung ihre Hilfe im Kampf gegen das Virus an.
Saudi-Arabien und Bahrain sind in den letzten Jahren hart gegen politischen Widerspruch aus den Reihen ihrer schiitischen Bevölkerung vorgegangen. In beiden Ländern werden Schiiten politisch an den Rand gedrängt, für ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken stigmatisiert, ihre Loyalität als Staatsbürger in Zweifel gezogen. Die Corona-Krise scheint anti-schiitische Vorurteile und Diskriminierung nun weiter anzuheizen.
Bahrain nutzt die Corona-Krise, um die Bewegungen seiner schiitischen Bürger auf Schritt und Tritt nachzuverfolgen.
Bereits 2016 brachen Saudi-Arabien und Bahrain ihre diplomatischen Beziehungen zu Iran ab, nachdem die Exekution des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr in Saudi-Arabien zu Protesten in Iran und etwa zur Stürmung der saudischen Botschaft geführt hatte. Seitdem war es Saudis offiziell verboten, nach Iran zu reisen – so mancher schiitische Pilger wollte sich den Besuch der Schreine aber nicht untersagen lassen und reiste über Drittländer.
Nachdem Saudi-Arabien dann seinen ersten COVID-19-Fall in der primär schiitischen Region Qatif im Osten des Landes vermeldete, wurde nicht nur die gesamte Region unter Quarantäne gestellt. Der saudische Gesundheitsminister forderte außerdem diejenigen Reisenden auf, die sich nach Iran aufgemacht hatten, sich bei den Behörden zu melden. Daraufhin gaben dutzende schiitische Saudis zu, nach Iran gereist zu sein – als dann die Coronavirus-Infektionen im Königreich anstiegen, wurden sie von einigen ihrer saudischen Landsleute auf Twitter als Verräter verflucht und mit dem Tode bedroht.
Bahrain hingegen hat damit begonnen, die Corona-Krise zu nutzen, um die Bewegungen seiner schiitischen Bürger auf Schritt und Tritt nachzuverfolgen. Außerdem wurden Iran-Reisende dazu aufgefordert, sich bei einer entsprechenden Telefon-Hotline zu melden. Obwohl Reisen nach Iran, anders als in Saudi-Arabien, nicht verboten sind, haben auch die betroffenen schiitischen Bahrainer allen Grund, Konsequenzen zu fürchten.
Am Beispiel Saudi-Arabien zeigt sich, wie weit die Projektion der Corona-Bedrohung auf eine spezifische Bevölkerungsgruppe von der Realität entfernt ist.
Diese Beispiele zeigen, wie mit den Schiiten in manchen Ländern eine ganze Bevölkerungsgruppe als potenzielle Sicherheitsbedrohung gesehen und entsprechend behandelt. Solch eine Einstufung verstärkt Feindbilder und Vorurteile. Einzig Katar stimmte nicht in die Dämonisierung Irans durch seine Nachbarländer ein – dank der vergleichsweise guten Beziehungen zu Teheran und nicht zuletzt ob der eigenen Erfahrung, von den Nachbarn an den Pranger gestellt und isoliert zu werden.
Am Beispiel Saudi-Arabien zeigt sich jedoch, wie weit diese Projektion der Corona-Bedrohung auf eine spezifische Bevölkerungsgruppe von der Realität entfernt ist: Denn kurze Zeit später wurden weitere Fälle bei Ägyptern in anderen Teilen des Landes gemeldet. Bald stiegen auch die Infektionszahlen in der Region Hijaz im Westen, in der unter anderem die beiden heiligen Stätten und zentralen Pilgerorte des Islams, Mekka und Medina, liegen. Daher entschieden die saudischen Behörden Ende Februar gar, die kleine Pilgerfahrt, die Umra, auszusetzen.
Auch im Libanon, der ohnehin in einer handfesten Finanz- und Systemkrise steckte, verstärkte die Corona-Krise zusätzlich politische und konfessionelle Spannungen. Die stärkste politische und militärische Kraft des Landes, die Hizbullah, pflegt intensive Beziehungen mit Iran und der Libanon hielt den Flugverkehr von und nach Iran bis in die zweite Märzwoche aufrecht. Die iranische Unterstützung der Hizbullah ist unter den Konfessionsgemeinschaften des Landes allerdings heftig umstritten und die rivalisierenden Parteien im Land politisierten das Virus für diesen Streit.
Ohne Sicherheit für das Wohl der Menschen kann es im Nahen Osten keine Sicherheit geben
Denn so bot sich eine günstige Gelegenheit, den iranischen Einfluss im Libanon zu kritisieren. Immerhin war im Rahmen der Regierungsbildung Ende Januar der neue Gesundheitsminister Hamad Hassan auf Initiative der Hizbullah ins Amt gekommen. Seit dem 21. März gilt im gesamten Libanon eine Ausgangssperre und viele Libanesen fürchten, dass die Auswirkungen der Krise sehr viel gravierender sind, als es die Regierung zugeben möchte.
Während Syrien erst in der letzten Märzwoche die ersten Coronavirus-Fälle an die Weltgesundheitsorganisation meldete, fehlen aus dem Jemen noch immer jegliche Fallzahlen. Aber im Anbetracht der engen ökonomischen und militärischen Beziehungen der beiden Länder zu Iran scheint es unwahrscheinlich, dass sie weniger betroffen sind als die direkten Nachbarn der Islamischen Republik. Und nach Jahren des Krieges wäre die Verbreitung von Corona in Jemen, Syrien oder Libyen, sowie in den Lagern voller syrischer Geflüchteter in Jordanien, der Türkei oder dem Libanon absolut verheerend – gleiches gilt für das dicht besiedelte und arme Ägypten.
Sowohl aus einer sicherheitspolitischen als auch aus einer humanitären Perspektive wird die Corona-Pandemie im Nahen Osten voraussichtlich undenkbare Ausmaße annehmen – ein Szenario, das vor Augen führt, dass es ohne Sicherheit für das Wohl der Menschen keine Sicherheit geben kann. Und dass die Länder in der Region ihre Kooperation ausbauen müssen, um die großen Herausforderungen der Zeit zu meistern. Leider scheint die Coronavirus-Pandemie stattdessen bislang politische Gräben eher zu vertiefen, als sie zu überwinden.
Toby Matthiesen forscht an der Oxford-Universität. Zurzeit schreibt er eine Geschichte der Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten.
https://magazin.zenith.me/de/politik/die-schiiten-corona-und-konfessionalismus